Gespräch mit Bettina Skrzypczak
Ich spüre eine grosse Freude auf etwas, das ich entdecken werde, und zugleich ein Gefühl der Verantwortung für die Entscheidungen, die ich treffe. Und ich finde es schade, dass ich die vielen Gedanken, die mir vor dem leeren Blatt kommen, nicht schnell genug realisieren kann.
Nein, ich trage die Komposition längere Zeit mit mir herum und mache mir vielleicht kleine Skizzen. Wenn ich dann das Gefühl habe, dass die Idee gereift ist, beginne ich zu schreiben. Der Prozess des Schreibens ist die zweite Etappe. Die wichtigere Arbeit kommt vorher: das Nachdenken über das Stück.
Das ist verschieden, doch in der Regel gehe ich aus vom Gefühl einer Dynamik, eines Prozesses, einer Entwicklung. Diesen Prozess empfinde ich während der Entstehungszeit immer deutlicher. Man könnte auch von Bewegung sprechen, oder von verschiedenen emotionalen Zuständen. Das ist der Ausgangspunkt. Dann kommt die intellektuelle Arbeit, denn das alles muss geordnet und definiert werden. Auch beobachtet die eigene Idee muss mit kritischem Blick beobachtet werden.
Zum Beispiel in Entwicklungen, die ich durch Strukturierung der Klangfarbe erreiche. Oder das Prozesshafte als dynamische Form, als ständiges Umwandeln: Platz für Überraschungen, Offenlassen von Freiräumen, Platz für etwas, das nicht abgeschlossen ist.
In ganzheitlichen Vorstellungen. Bei längeren Formverläufen spielt die Harmonik eine grosse Rolle. Sie ist so gestaltet, dass eine 'sanfte Umwandlung', ein ständiger Wechsel, stattfindet. Das heisst, neue Elemente kommen dazu, andere verschwinden; oder eine Idee, die mich heute besonders beschäftigt es gibt bewegliche Wolken, in denen sich harmonische Veränderungen vollziehen. Das kann kontinuierlich geschehen oder mit Überraschungen. Aber es hat immer seine Logik. Manchmal ist es nötig, Fixpunkte zu setzen, eine Art Knoten. Dann entstehen zwischen diesen Knotenpunkten Räume, die ich erst gestalte, wenn ich gerade am Schreiben bin. Das hat in manchen Fällen etwas mit dem Zufallsprinzip zu tun, in der Art, dass man voraussehen kann, wie oft in einem bestimmten Abschnitt etwas passieren wird. Das Wichtige ist, den Rahmen, den Gesamtprozess zu definieren. Aber die Details, die Atome, kann man immer noch verschieden gestalten. Sie sind etwas Lebhaftes, Wichtiges, aber sie sind dem großen Prozess untergeordnet.
Ich konstruiere verschiedene Akkorde oder vertikale Blöcke. Aber nicht nach irgendwelchen Proportionen, sondern eher von der Intuition aus. Ich stelle sie mir ungefähr vor und notiere sie. Sie müssen der 'Stimmung' entsprechen, die ich in diesem Moment habe. Man kann sagen, dass jeder Akkord seine bestimmte 'Stimmung' besitzen muss. Dann beobachte ich natürlich auch die Struktur. Es sind immer beide Seiten vorhanden.
Wenn ich mit einem neuen Stück anfange, dann bin ich mir schon sehr sicher über das, was ich schreibe. Das bleibt denn auch so, wie es ist. Es ist wie ein klarer Traum. Ich habe auch schon einmal ein Stück geträumt, ein ganzes Orchesterstück, das war phantastisch. Leider habe ich es nie niedergeschrieben. Das ist die Möglichkeit, das Ganze auf einmal zu spüren. Es gibt Gefühle, die in einem Augenblick alles umfassen. Wie in der Erinnerung alles, was ich in zehn Jahren erlebt habe, in einer einzigen Minute wieder zurückkommen kann. Das Interview mit Bettina Skrzypczak führte Max Nyffeler 1996. Es ist erschienen in der Reihe Komponisten in der Schweiz, herausgegeben von der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia.
Nicht um einen bestimmten Traum, sondern um das Wesen des Traums als das Grenzenlose, nicht Fassbare, Prozesshafte, Geheimnisvolle.
Ja. In diesem Stück habe ich Texte gesucht, die sich um die Vorstellungen von Traum, von Weite drehen. Diese Texte haben einen Kern, den man nicht recht definieren kann. Man kann nur versuchen, eine Musik zu schreiben, die dem, was sie umkreisen, ähnlich ist und die von einer andern Seite her zum gleichen Punkt kommt. Diese Texte öffnen semantische Felder, die sich zu Teil überlagern: es geht um Sterne, Sternbilder, um Himmel, Unendlichkeit, um Raumvorstellungen, Traum. Ähnlich im Orchesterstück SN 1993 J. 'SN' steht für 'Supernova', also eine Himmelserscheinung.
Ich schreibe nicht Programmusik. Aber manchmal gibt es Ereignisse, die für einen wichtig werden, weil sie Gedanken in Gang setzen. In diesem Fall war es eine kleine Zeitungsmeldung über einen neuen Stern. Mich beeindruckte der Kontrast zwischen der lapidaren Notiz und der Größe des Ereignisses, auf das sie sich bezog. Zugleich hatte ich auch rein musikalische Ideen, die damit korrespondierten: die Ideen der bewegten harmonischen Felder und des Wechsels zwischen chaotischen und geordneten Strukturen.
'Wie ist es? Wo bleibt der Sinn verborgen?' Das hat mich wirklich erschüttert. Aber ich habe immer eine Beziehung zu den Sternen gehabt. Ich betrachte gern den Sternenhimmel am Abend. Er ist etwas, das für unser Wissen, unser Bewusstsein existiert, das wir aber nie fassen können. Ich habe eine Sehnsucht nach dem, was wir nicht fassen, nicht erleben können.
Nein. Das ist eher die Faszination dessen, was man nicht sehen kann. Keine Flucht, sondern Hoffnung.
Auf Neues, auf eine neue Welt, neue Endeckungen... eine schwere Frage. Ein Beispiel: Raum. Wenn man ein Gefühl für einen grossen Raum hat, dann hat man immer zugleich auch die Hoffnung, diesen Raum ausfüllen zu können. Das Unerfüllte. Ich brauche dieses Gefühl, ständig weiter zu suchen. Etwas erkennen, fassen, und dann weiter. Freude am Entdecken, am Teilnehmen, das Leben auf diese Weise entdecken. Wobei sich das ja immer in der Kunst und nicht im unmittelbaren Leben abspielt. Die beiden Bereiche kann man nicht trennen. Da ist eine Einheit. Das Komponierte ist ein bisschen wie ein Tagebuch von dem, was man erlebt im Alltag. Man ist sich dessen nur meist nicht bewusst. Für ältere, erfahrene Komponisten ist das sicher anders. Ich kann mir vorstellen, wenn sie ihre früheren Stücke hören, sind sie erstaunt, was sie alles erlebt haben und wie anders sie selbst im Lauf der Zeit geworden sind.
Ich denke sehr räumlich. Das lässt sich musikalisch natürlich auf sehr verschiedene Weise umsetzen. Ich suche nach solchen Möglichkeiten. Die Klangfarbe gehört zu den wichtigste Faktoren bei dieser Arbeit.
Ich schreibe gern für Orchester. Mit der Zeit habe ich natürlich schon gemerkt, dass es nicht immer dieses Mittel braucht, um den Raum zu gestalten. Mit einem Solostück kann man es auf andere Weise tun. Aber das Orchester ist mir sehr nah.
Erstens die breite Farbenpalette. Und dann gibt das Orchester die Möglichkeit, die Spieler einzeln oder in Gruppen einzusetzen, ähnlich wie in der Kammermusik, nur in komplexerer Weise. Ich komponiere Orchesterstücke gern so, dass ich dem einzelnen Musiker eine Verantwortung übertrage. Das verlangt natürlich eine ständige Konzentration, auch ein gegenseitiges Zuhören. Leider ist das Bewusstsein der Orchestermusiker noch nicht überall so entwickelt. Manche schimpfen, manche sind begeistert.
Man spricht oft von den zwei Hauptströmungen im 20. Jahrhundert: einerseits Schönberg und die Wiener Schule, andererseits Strawinsky und die französische Tradition der Klangfarbenbehandlung, ausgehend von Debussy. Diese zweite Richtung ist mir viel näher. Auch der Koloristik der polnischen Musik der sechziger Jahre fühle ich mich verwandt. Schade, dass ich nicht damals gelebt habe.
Ihre Welt ist die, die ich 'vorgespürt' habe. Sie kommt jetzt bei ihnen noch klarer zum Ausdruck, und deswegen fühle ich mich wohl darin. Wesentlich ist, dass neue Werte wichtig werden. Zum Beispiel wird die Freiheit heute anders verstanden. Es geht nicht mehr um das Experiment im Sinne der Erschliessung von neuen Räumen; diese sind grösstenteils entdeckt. Die Freiheit liegt heute nicht mehr im Suchen, sondern im Entscheiden.
Ja, der Pluralismus. Es gab einen Moment, in dem sich alles entwickelte und man alles tun durfte wunderbar. Aber jetzt kommt eher eine Zeit, in der man denkt: In dieser Vielfalt muss ich mich jetzt doch für etwas entscheiden. Für etwas, das mir entspricht und das ich als das Wichtigste betrachte. Und dann muss man diese Entscheidung verantworten können. Ich finde, das Wort Verantwortung bekommt dadurch jetzt mehr Inhalt. Das ist die heutige geschichtliche Situation. Dieses Interview mit Max Nyffeler entstand 1996 für die Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia. |
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