Weissagung
Eine komponierte Improvisation für vier Musiker
Mein Improvisationskonzept für das "Quartet noir" (mit Marilyn Crispell, Klavier, Joëlle Léandre, Kontrabass, Urs Leimgruber, Saxophone, und Fritz Hauser, Schlagzeug) entstand aus der Beschäftigung mit dem Phänomen der antiken Sibyllen. Diese "gottbegeisterten, gottinspirierten Frauen, die in einem Zustand der Ekstase Ahnung kommender, meist unerfreulicher und schreckhafter Ereignisse aus einem inneren Antrieb verkündeten, ohne befragt zu sein" (A. Rzach, 1923), gab es von Assyrien bis Griechenland. Die früheste bekannte Quelle findet sich bei Heraklit. Sibylle-Mythologien sind, wie der Musikforscher Jordi Savall nachweist, auch noch in Mittelalter und Renaissance in der Provence und in Katalonien tradiert worden. (Ein berühmtes Beispiel ist die Dies-Irae-Sequenz von Thomas von Celano: "Dies irae, dies illa / solvet saeclum in favilla / teste David cum Sibylla.")
Zum Wesen der Sibyllen gehört es, dass sie zukünftige Ereignisse in enigmatischen Bildern vorausschauen können. Ihre Intuition entpuppt sich als klares, wenn auch inhaltlich mehrdeutiges Wissen von Dingen und Ereignissen, die dem Normalbewusstsein noch verborgen sind. Ihr Bewusstsein "nimmt die Zukunft voraus".
Mit dieser Idee zweier zeitlicher Realitäten spielt mein Stück, das ich eine "komponierte Improvisation" nennen möchte. Wirklichkeit soll in doppeltem Zustand erscheinen: einmal als geahnte Wirklichkeit im Zustand der Weissagung, einmal als Wirklichkeit im Zustand der Erfüllung. Mein Wunsch an die Interpreten ist, dass sie diese beiden Perspektiven während des ganzen Stücks stets als eine Einheit der Gegensätze vor Augen haben. Sie haben sich sozusagen in die Rolle einer Sibylle zu versetzen, in deren Bewusstsein die spätere Realität bereits als Vorahnung präsent ist.
Die Textfragmente aus den Weissagungen der Sibyllen, die dem Stück zugrunde liegen, sind teils auf assoziative Weise eingesetzt, um die Imagination der Spieler zu beflügeln, teils werden sie musikalisiert durch Rhythmisierung, lautliche Zerlegung usw. Das Stück besteht aus den vier Teilen "Prolog", "Weissagung und Warnung", "Erfüllung" und "Epilog", die pausenlos ineinander übergehen. Die Anlage des Ganzen ist kreisförmig, was unter anderem unterstrichen wird durch die rhythmischen Entsprechungen in Prolog und Epilog, basierend auf dem Sprachrhythmus von Vergils Zeilen: "Schon ziehet der Weltalter letztes herauf nach dem Wort der Sibylle / Und von neuem beginnt der Jahrhunderte mächtiger Kreislauf." Entsprechend der Grundidee des Kreisens ist auch das Material stark einheitlich konzipiert. Es tritt nur in unterschiedlichen Aggregatszuständen in Erscheinung. Für die Interpreten habe ich eine Aktionspartitur ausgearbeitet, in der der energetische Verlauf der Grossform skizziert und präzise Angaben zu Tonmaterial und Artikulationsweisen gemacht werden.
Bettina Skrzypczak (2003)
Dem Stück liegen folgende Textfragmente zugrunde (daraus werden einzelne Wörter als Lautmaterial herausgegriffen):
Unter den Sternen sah ich das Drohn einer leuchtenden Sonne,
und erblickt' eines Mondes entsetzlichen Zorn in den Blitzen.
Kampfesschwanger waren die Sterne, und Gott liess sie kämpfen.
Denn statt der Sonne befanden sich längliche Flammen in Aufruhr.
...
Luzifer lenkte die Schlacht und stieg auf den Rücken des Löwen.
...
Schnell dann hinab zu Okeanos' Bad geschleudert, versetzen sie die ganze Erde in Brand. Sternenlos blieb der Äther.
...
Und so hab' ich geweissagt den Sterblichen göttliche Rätsel,
aber in Griechenland schieben sie mir eine andere Heimat
zu und nennen mich "schamloses Weib aus Erythrai";
und andere sagen, ich sei eines Unbekannten Tochter und Kirkes,
eine rasende Lügen-Sibylle; doch wenn alles eintrifft,
werdet ihr an mich denken und nicht mehr mich "Rasende" nennen,
sondern erkennen: ich war des gewaltigen Gottes Prophetin.