aus Partitur 'Vier Figuren'

Verba

für Orchester (1987)

Es ist immer aufregend, ein eigenes Werk im Konzert zu hören, und besonders aufregend ist es, wenn es sich um eine Wiederbegegnung nach vielen Jahren handelt. "Verba", mein erstes Orchesterstück, schrieb ich 1987 mit 25 Jahren. Es erhielt bei einem Wettbewerb für junge Komponisten in Zagreb den ersten Preis und wurde 1989 bei der Musikbiennale Zagreb unter der Leitung von Arturo Tamayo uraufgeführt.

Nun, da ich mir die Partitur wieder anschaue, entdecke ich in "Verba" Denkansätze, die in meiner späteren orchestralen Musiksprache ausdifferenziert werden, etwa das Operieren mit rhythmischen und klangfarblichen Kontrasten, den beständige Wechsel von Dichte und musikalischem Gestus oder das hier noch keimhaft angelegte Hervortreten einzelner Soli aus dem Orchesterklang. Auch das Setzen von "Zeitmarken" – hier u.a. durch einschneidende Tuttiakkorde – und die damit verbundene Erzeugung von Spannungsverläufen sind wichtige Mittel zur Strukturierung von Raum und Zeit und zugleich Ausdruckselemente geblieben. Nicht zu vergessen der Aspekt der Bewegung: Die expansive Erschliessung von Raum und Zeit erfüllt mich bis heute mit ungestillter Entdeckerfreude und bedeutet für mich jedes Mal wieder eine vitale Erfahrung.

In der Zeit der Entstehung von "Verba" beschäftigte ich mich eingehend mit der Frage nach den Berührungspunkten zwischen verbaler und musikalischer Semantik. Besonders faszinierte mich das in beiden Ausdrucksdimensionen vorhandene Spannungsverhältnis zwischen dem Wirklichen, Fassbaren einerseits und dem Verborgenen, Unaussprechbaren andererseits. Die Musik entzieht sich zwar der Begrifflichkeit der Sprache. Trotzdem lässt sich behaupten und auch an vieler Musik beobachten, dass ein eindringlicher musikalischer Gestus sich der Deutlichkeit des Wortes nähern kann. Doch wo liegt die Grenze zwischen der direkt wahrnehmbaren Oberfläche und dem, was sie verbirgt? In Bezug auf die verbale Sprache beeindruckte mich immer die Formulierung von Octavio Paz:

Wenn die Welt wirklich ist
    so ist das Wort unwirklich
Wenn wirklich ist das Wort
    So ist die Welt
Die Ritze der Glanz der Wirbel
    Wirklich unwirklich
Sind Wörter
    Luft sind sie nichts

Dieser Grundgedanke ist in "Verba" allgegenwärtig, sowohl in der Grossform als auch im Detail. Grossformal manifestiert er sich in dem abrupten Schnitt, welcher die Komposition gleichsam in zwei Welten trennt: Auf der einen Seite die Welt der klaren, vitalen Geste, auf der andern Seite die Welt der Reflexion mit ihrem reduzierten Tonhöhenmaterial, das sich zum Geräusch hin erweitert. Die strukturellen Bausteine des ersten Teiles der Komposition sind zwar auch im zweiten vorhanden, doch haben sie nun eine neue Funktion. Die Bewegungsenergie wird in einem statischen Kraftfeld aufgehoben, der Raum öffnet sich nach innen.

Bettina Skrzypczak (2002)

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