aus Partitur 'Vier Figuren'

Phototaxis

für Streichorchester (2003)

1. Kurzer Kommentar, 1040 Zeichen

Phototaxis, ein Begriff aus der Biologie, beschreibt die Wirkung einer Lichtquelle auf die Zellen bestimmter Organismen: Durch die Lichtwahrnehmung entsteht eine Bewegung auf das Licht hin oder von ihm weg. Diese Definition rief Bilder von elementaren Lebensprozessen in mir wach, die später zu einem Ausgangspunkt meiner Komposition wurden. Je mehr ich mich in die naturwissenschaftliche Gedankenwelt vertiefte, desto weiter öffneten sich mir unbekannte Räume des Klangs und der Poesie.

Die Vorstellung von Lichtreflexen und Lichtatmosphären sowie die Idee von wechselnden Ortungen und Wahrnehmungsweisen, die den Klangraum in kontinuierlicher Veränderung halten, spielen eine wesentliche Rolle in meinem Stück. Licht erscheint als Quelle von Vitalität und Dynamik, aber auch als Ursache von Blendung: Grosse Helligkeit verdunkelt die Wahrnehmung. Das im Schatten Geborgene, nach innen Gewendete entwickelt sich hingegen unbemerkt, und im Augenblick seiner grössten Konkretion bildet es vielleicht eine Keimzelle neuer Sehnsüchte.

Bettina Skrzypczak (2003)

 

2. Langer Kommentar, 2930 Zeichen

Phototaxis, ein Begriff aus der Biologie, beschreibt die Wirkung einer Lichtquelle auf die Zellen bestimmter Organismen: Durch die Lichtwahrnehmung entsteht eine Bewegung auf das Licht hin oder von ihm weg. Diese Definition rief Bilder von elementaren Lebensprozessen in mir wach, und je mehr ich mich in die naturwissenschaftliche Gedankenwelt vertiefte, desto weiter öffneten sich mir unbekannte Räume des Klangs und der Poesie.

Eine wesentliche Rolle spielte dabei die Vorstellung von Lichtreflexen und Lichtatmosphären sowie die Idee von wechselnden Raumtiefen und Wahrnehmungsperspektiven. Dazu die Vorstellung von Licht als Quelle von Vitalität und Dynamik, aber auch als Ursache von Blendung: Grosse Helligkeit verdunkelt die Wahrnehmung. Das im Schatten Geborgene, nach innen Gewendete kann hingegen unbemerkt zur Keimzelle neuer Entwicklungen werden.

Aus solchen Metaphern der Bewegung und des Lichts schälte sich die konkrete Werkidee heraus. Ich wollte den Klang als lebendige Materie behandeln, die sich in einem permanenten Transformationsprozess befindet und eigenen Bewegungsgesetzen folgt, ähnlich den Vorgängen in der Biologie, auf die der Titel anspielt. Dieser Prozess konstituiert einen Raum, in dem Innen- und Außenwelt sich in assoziativ-traumähnlicher Weise durchdringen.

Das Phänomen der Bewegung wird kompositionstechnisch auf ganz unterschiedliche Weise definiert. Zu Beginn etwa erscheint Bewegung als schnelle Abfolge kontrastierender, aber strukturell verwandter Klangaggregate. Sie sind in Harmonik, Lage, Dichte und Artikulation einer fortlaufenden Veränderung unterworfen. Hinsichtlich der Artikulationsarten lautet beispielsweise die Abfolge in den ersten fünf Aggregaten: Bartók-Pizzicato – Bartók-Pizzicato mit rhythmisch zerlegtem Akkord – Bartók-Pizzicato gemischt mit ordinario/staccato – ordinario – ordinario/tenuto. Diese Ereignisfolge ergibt eine Veränderung des Erregungszustands von stark nach schwach, von extensiv nach intensiv. Sie transformiert sich unmittelbar in eine lyrische Espressivo-Partie, die aus demselben Grundmaterial abgeleitet ist.

Eine andere Form von Bewegung zeigt sich in den Abschnitten mit den komplexen Mikropolyphonien (presto, senza misura), die kurz nach dem Beginn und dann wieder vor den Pizzicatoschlägen gegen Schluss auftauchen. Die einzelnen Stimmen in diesem Gewebe sind vom Material her miteinander verwandt, unterliegen aber in ihrer melodischen Substanz einer ständigen Transformation. Sie sollen cantabile gespielt werden. Es geht hier also um den Aufbau einer von innen belebten Textur, einer dichten Polyphonie von lyrisch-subjektiven Ausdrucksgesten. Der zunehmend geräuschhafte Klang im Schlussteil wiederum bedeutet nicht Absterben, sondern stellt eine weitere Art der Klangtransformation dar, die mit ihrem Decrescendo al niente der Wahrnehmung eine neue Dimension eröffnet.

Bettina Skrzypczak, 2003

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