Landschaft des Augenblicks
Fünf Lieder für Mezzosopran, Viola und Klavier (1992)
Dem Vokalzyklus Landschaft des Augenblicks liegen Gedichte von vier bedeutenden polnischen Autorinnen und Autoren des 20. Jahrhunderts zugrunde: Czeslaw Miłosz, Kazimiera Iłłakowiczówna, Leopold Staff und Maria Pawlikowska-Jasnorzewska. Doch der Ausgangspunkt des Werks ist nach Auskunft der Komponistin eine musikalische Idee, die auch im zeitgleich entstandenen dritten Streichquartett eine dominierende Rolle spielt: Die Verschachtelung verschiedener Zeitebenen. Der Fluß der realen Zeit wird immer wieder durchbrochen von Momenten der Erinnerung, der Reflexion und der Phantasie, in denen eine Dimension aufblitzt, die jenseits unserer Erfahrung liegt.
Da Gedanken zur Zeitstruktur und nicht literarische Überlegungen am Beginn der Komposition standen, besitzt der Zyklus auch keine lineare Erzähllogik. Anstelle eines "roten Fadens" bietet er eine Abfolge unterschiedlicher Einzelperspektiven: die kontemplative Situation ("Motiv", "Fenster"), das katastrophische innere Geschehen ("Brief"), die Naturbeobachtung, die sich freilich als Metapher für stachelbewehrte weibliche Erotik entpuppt ("Brennessel, aus der Nähe betrachtet"), und der übermütige Bericht, hinter dem sich die Existenz einer geheimen Welt verbirgt ("Die Hexe"). Doch alle diese Geschichten sind auf der Ebene der musikalischen Struktur miteinander verklammert. Die Konsistenz des Zyklus wird durch ein dichtes Geflecht von musikalischen Beziehungen gewährleistet. Dazu gehören charakteristische melodische Kernintervalle, die Fixierung tonaler Achsen, Scharniertöne zwischen einzelnen Liedern und nicht zuletzt die vokale Charakteristik.
Die Ausdrucksvielfalt der Texte wird in eine facettenreiche, im Detail genau ausformulierte Musik übersetzt, wobei die Singstimme im Gestus zurückgenommen ist. Sie wird meist syllabisch geführt und schmiegt sich eng an den Sprachduktus an. Die expressiven Qualitäten des Textes sind vor allem in den Instrumentalpart eingeflossen, und bei den heftigsten Affekten wird der Text sogar weggeblendet. So wird die psychische Erregung in "Brief" nicht mit vokalen Mitteln dargestellt, sondern findet ihren Niederschlag in den brüsk wechselnden Erregungszuständen des instrumentalen Kommentars.
Max Nyffeler