Notturno (1992) und Mouvement (1999)
für Flöte solo
Die Spielanweisung "al niente", der Übergang von Klang in Stille, ist in den Werken von Bettina Skrzypczak öfters anzutreffen. In den beiden Flötensolostücken "Notturno" (1992) und "Mouvement" (1999) findet dieser Prozess am Schluss statt: Die Musik löst sich beide Male ins Nichts auf. Davor jedoch wird der Klang nach allen seinen Dimensionen ausgelotet. Der Klangraum umfasst fast vier Oktaven, die Lautstärke reicht vom "niente" bis zum dreifachen Forte, der zeitliche Verlauf wird permanent einer Kompression und Expansion unterworfen, der Einzelton durch Mehrklänge, Luftgeräusche und mikrotonale Schwankungen modifiziert. Die Vielfalt an Artikulationsformen und Ausdrucksgesten auf kleinstem Raum verleiht den beiden kurzen Stücken Fragmentcharakter. Fragment jedoch nicht verstanden als Skizze oder Entwurf, denn beide Werke sind detailliert durchgearbeitet und formal eindeutig definiert. Sondern Fragment als Klanggestalt, in der sich im Sinn der romantischen Poesie die Idee eines übergeordneten Ganzen spiegelt, oder, mit heutigen Worten, als ein nach dem Ähnlichkeitsprinzip gebautes Fraktal. Während "Notturno", die ältere Komposition, einer Grundhaltung der Ruhe verpflichtet ist und sich nur gegen Schluss einen kurzen expressiven Ausbruch erlaubt, ist "Mouvement" extrovertierter und bewegter. Der Ausdrucksreichtum des Stücks verdankt sich nicht zuletzt dem Rückgriff auf den Katalog neuer Spieltechniken, die in den letzten Jahrzehnten erschlossen wurden, und die seine Klanggestalt unauffällig, doch nachhaltig prägen.
Max Nyffeler