anomalia Lunae media
für Sopran, Bariton und 15 Instrumentalisten (2007)
Das Werk ist aus meiner Beschäftigung mit der Gedankenwelt des Mathematikers, Astronomen und Musiktheoretikers Leonhard Euler (1707-1783) entstanden. Darauf verweist der Titel: Mit „anomalia lunae media“ bezeichnet Euler in seiner Mondtheorie die mittlere Abweichung des Mondes von einer mathematisch definierten Umlaufbahn. Den unmittelbaren Anstoss zur Komposition gab mir aber ein Satz aus derselben Abhandlung: „Eine genaue und vollständige Kenntnis der Bewegungen des Mondes (...) liegt dermassen tief verborgen und ist mit so ungeheuren Schwierigkeiten verbunden, dass sie die Kräfte des menschlichen Geistes bei weitem zu übersteigen scheint.“ (Im lateinischen Original: „Adcurata et perfecta cognitio motuum Lunae, (...) tantopere abscondita summisque difficultatibus involuta deprehenditur, ut vires humani ingenii longe superare videatur.“) Damit spielt Euler auf die Unmöglichkeit einer vollkommenen Erkenntnis an dass die komplexe Realität immer nur in Annäherungswerten erfasst werden kann. Im Lichte dieser Äusserung erscheint auch die Grenze zwischen wissenschaftlicher und künstlerischer Erkenntnis fliessend, denn sie kann sowohl auf die Forschungsmethoden der Wissenschaft als auch auf die verschiedenen künstlerischen Sprachen angewandt werden.
Ein anderer für meine Komposition wichtiger Gedanke betrifft die Vielfalt der Wege, die zur Erkenntnis führen; das Leben und Schaffen Eulers war ein gutes Beispiel dafür. Deshalb die Wahl von Autoren aus verschiedenen Epochen: Leonardo da Vinci, Leonhard Euler, Jorge Luis Borges, Boethius. Trotz unterschiedlicher Perspektiven sind ihre Texte durch ähnliche Grundgedanken verbunden. In der Vernetzung öffnen sie weite Räume, und es entstehen neue Wege des Denkens und der Wahrnehmung.
Der innere Raum wird auf den äusseren projiziert: Das Ensemble ist in drei Gruppen aufgeteilt, von denen jede einen eigenen Klangkörper bildet. Die Instrumentalgruppen dialogisieren entweder mit den Singstimmen oder sie übernehmen die Funktion des Kommentators. So löst sich das Wort im Klang. Der Gesang kann metaphorisch als Stimme eines Suchenden verstanden werden.
Das Werk entstand im Auftrag des Mathematischen Instituts der Universität Basel zur Feier des 300. Geburtstags von Leonhard Euler im Jahr 2007.