aus Partitur 'Vier Figuren'

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Vom Klang der Sterne

Zur Musik von Bettina Skrzypczak

Eine wichtige Phase der kompositorischen Entwicklung von Bettina Skrzypczak fällt in die Zeit der großen politisch-kulturellen Umwälzungen in Polen um 1980. Deren Dynamik, die auch vor den Künsten nicht Halt machte, hat ihr Bewusstsein nachhaltig geprägt. Komponieren ist für sie ein kommunikativer Akt, die Arbeit am musikalischen Material immer auch Arbeit am eigenen Verhältnis zur Welt. Dabei richtet sie ihren Blick über den musikalischen Horizont hinaus auch in entferntere Wissensgebiete, von der Ästhetik über die Philosophie bis zu den Naturwissenschaften.

Von Anfang an zeigt sich in ihrem Werk die Tendenz zu einer Synthese zwischen polnischen Traditionslinien – repräsentiert durch Komponisten wie Lutosławski, Baird, Serocki und den frühen Górecki – und aktuellen westeuropäischen Einflüssen. Das verstärkt sich in den Jahren ab 1984, als sie in den Ferienkursen in Kazimierz, dem „polnischen Darmstadt“, mit Lutosławski, Nono, Pousseur und Xenakis in Kontakt tritt. Vor allem das zwischen Kunst und Wissenschaft vermittelnde Denken von Xenakis gibt ihr viele Anregungen. Davon zeugen unter anderem ihre Auffassung von Raum und Klang sowie ihre Überlegungen zur Dialektik von Chaos und Ordnung. An letzterer interessieren sie primär die ästhetisch-philosophischen Aspekte; eine Übersetzung chaostheoretischer Lehrsätze in kompositorische Rezepte lag nie ihrer Absicht.

Bettina Skrzypczaks Umgang mit den Farben und Klangmassen des großen Orchesters verrät eminentes Fingerspitzengefühl. Hörbar wird das schon in ihrem ersten Orchesterstück Verba (1987). Als es bei der Biennale Zagreb mit einem Kompositionspreis ausgezeichnet und unter der Leitung von Arturo Tamayo uraufgeführt wurde, schien das der definitive Startschuss für die Karriere der in Polen als Shooting Star gehandelten Komponistin zu sein. Doch nach der 1988 erfolgten Übersiedlung in die Schweiz musste sie erst einmal wieder von vorne beginnen. Nach langer, hartnäckiger Arbeit kann sie heute ein reichhaltiges, praktisch alle konzertanten Gattungen umfassendes Oeuvre vorweisen, das auf wache Resonanz stößt. „Bettina Skrzypczak est une des locomotives de la vie musicale suisse“, meldete im März 2005 die Musikzeitschrift „Dissonanz/Dissonance“. Doch wie die wachsende Zahl von internationalen Aufführungen zeigt, beschränkt sich das Interesse an ihrer Musik längst nicht mehr nur auf die Schweiz. Zu ihrer Heimat Polen unterhält die Komponistin nach wie vor starke Bindungen. Nach der Aufführung ihres Vokalzyklus Miroirs beim „Warschauer Herbst“ 2003 sah die polnische Zeitschrift „Ruch Muzyczny“ in ihrem Werk „den Beweis dafür, dass die angeblich längst zu Grabe getragene polnische Moderne in der Musik weiterlebt“. 

Selbstinterpretationen ihrer Musik liefert Bettina Skrzypczak nur zögernd, Geheimnisse gibt sie schon gar nicht preis. Der enigmatische Programmheftkommentar zu ihrem Orchesterstück SN 1993 J – der Titel bezieht sich auf eine 1993 entdeckte Supernova – ist bezeichnend: „Die Komposition ist durch die Entstehung eines neuen Sterns inspiriert. Wie ist es? Wo bleibt der Sinn verborgen?“ Eine Antwort versucht sie mit ihrer Musik zu geben. Und auch der Hörer ist eingeladen, seine Imagination walten zu lassen und dem Sinn nachzuspüren. Die Komponistin sieht in ihren Werken „Abbilder von Lebensprozessen“ im weitesten Sinn. Das reicht von intimen Empfindungen, die sich im lyrischen Grundton mancher Werke äußern, über wissenschaftlich erforschte Vorgänge in der organischen Natur (Phototaxis für Streichorchester) bis zur kosmischen Erscheinung in SN 1993 J.

Von großer Bedeutung ist für Bettina Skrzypczak die Intuition – ein Begriff, der nur scheinbar im Widerspruch zur kompositorischen Ratio steht. „Alle Entdeckungen sind mit Intuition verbunden“, sagt sie. „Eine starke Intuition ist ein Maximum an gesammelter Energie kurz vor dem Ausbruch. Das absolute Potential.“ Also gleichsam der geistige Urknall am Beginn jedes Werks, aus dem sich im darauf folgenden, langwierigen Ausarbeitungsprozess alles Weitere ableitet. Mit der Konzentration auf den Moment des Entstehens sträubt sich dieses Denken gegen jede Verdinglichung; die Konfigurationen des Materials sind Konsequenz, nicht Ausgangspunkt des schöpferischen Impulses.

Das Prinzip des Werdens prägt Struktur und Erscheinungsbild der Werke. Form ist das Resultat organischer Prozesse im Material, wobei melodisch-harmonische Mikroorganismen oft als Keimzellen größerer Entwicklungen fungieren. Durch subtile Verwischung melodischer und harmonischer Konturen entstehen Zonen der Unschärfe, in denen die Unterschiede zwischen Linie und Akkord, Klang und Geräusch tendenziell aufgehoben und die Parameter außer Kraft gesetzt werden. Alles verschmilzt zu einem einzigen, in seinem Innern genau strukturierten Klangstrom. Das geschieht etwa gegen Schluss des 4. Streichquartetts in den mikrotonalen Reibungen und polyphonen Verdichtungen im engsten Intervallraum; ihr irisierender Klangcharakter wird durch die Feinheiten der Artikulation noch verstärkt. Die Folge ist eine hochgradige Intensivierung des Ausdrucks in den leisen Registern. Das Gegenteil, eine mächtige Expansion des Klangs, ist etwa im Schlussteil des Klavierkonzerts oder in der Raumkomposition Vier Figuren zu beobachten: der von kräftigen rhythmischen Impulsen getragene Energiestrom mündet in eine Folge von kinetischen Explosionen, die auf ihrem Höhepunkt abrupt in ihr Gegenteil, eine verinnerlichte Ruhe, umkippen können.

Eine Grundeigenschaft der Musik von Bettina Skrzypczak, die starke physische Präsenz, tritt in solchen Momenten unverhüllt in Erscheinung. Und noch etwas anderes fällt auf: Auch heftiger Affekt wird stets konstruktiv gebändigt. Das ist die Garantie für das Gelingen einer Musik, die sich anschickt, in der Erschütterung der Sinne die Spuren des Geistigen zu entdecken. Indem sie das Äußerste wagt, bildet sie ein lebendiges Gegenparadigma zu einer von kalter Rationalität beherrschten Welt.

© 2005 Max Nyffeler